Hebräisch denken – Wie denkt man, wenn man hebräisch denkt?

BEGRIFFE ODER GESCHICHTEN …

Wer in unserem eher ‚westlichen’ Denken aufgewachsen ist, der entdeckt darin eine Vorliebe für ‚Begriffe’: Erlösung, Liebe, Hoffnung, Gerechtigkeit usw. Sie können die Liste der Begriffe selbst fast unendlich weiter führen. Jesus hat in seiner Verkündigung auf Begriffe weitgehend verzichtet. Er hat Geschichten erzählt. Menschen fragen ihn durchaus nach dem Verständnis von Begriffen: Was bedeutet Gerechtigkeit? Wer ist mein Nächster? Was ist unter Barmherzigkeit zu verstehen usw.? Auch in unseren ‚christlichen’ Antworten klingt es oft so: Man muss der Vergebung einfach glauben … man darf die Hoffnung nicht verlieren … verlass dich auf die Gnade! Usw. Es sind Begriffe, durch die wir Menschen und auch uns selbst Klarheit geben wollen.

Da fällt es auf, dass Jesus so nicht gesprochen hat. Wo wir Begriffe verwenden, da hat Jesus Geschichten erzählt. Wie wenn er sagen würde: Schau hin! Es geht doch so zu … Und dann erzählt er Gleichnisse. Geschichten kommen ohne Begriffe aus. Sie schildern die Vorgänge, die hinter den Begriffen stehen.

Als Beispiel. In den Menschen zur Zeit Jesu – und wohl auch in uns selbst – wohnt die Frage, ob Gott denn wirklich gerecht sei (genauer: ob es bei dem Gott, von dessen „Reich der Himmel“ Jesus Kunde gibt, wirklich gerecht zugehe). Das ist die Frage nach einem Begriff. Jesus nimmt diese Frage sehr wohl auf. Aber er beantwortet sie nicht mit einem Begriff. Er erzählt die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg (Matthäus 20,1-16). Das ist eine der ganz grossartigen Geschichten, die Jesus erzählt hat. Man muss sich deutlich machen: Jesus war einer der grössten Erzähler der Weltliteratur. In dieser Geschichte zeigt er, welcher Vorgang hinter dem steht, was Jesus unter „Gerechtigkeit“ versteht. Das Geheimnis dabei ist: Über Begriffe kann man fast unendlich diskutieren. Vorgänge aber kann man nur zur Kenntnis nehmen. Die Gleichnis-Geschichten, die Jesus erzählt hat, sind alle so. Man kann nur sagen: Ja, genau so ist es! Dass ein Hirte, der sein verlorenes Schaf sucht und findet, sich am Ende freut, das ist einfach so. Und dass ein Tagelöhner, der einen Schatz im Acker findet, hingeht und alles verkauft was er hat, um den Acker und damit den noch viel kostbareren Schatz zu erwerben … Das ist einfach so. Wer anders handelt, der handelt unsinnig. Niemandem kommt in den Sinn, darüber zu diskutieren.

Und so geht es nun auch in der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes zu. Jesus hat sich nicht auf eine Diskussion des Begriffes eingelassen. Er erzählt eine Geschichte, die nur einen Schluss zulässt: Ja, so darf ein Besitzer eines Weinberges handeln. Es sind zwei Sätze, die Jesus ans Ende der Geschichte stellt. Der Weinbergbesitzer, hinter dem wir Gott sehen, fragt: „Darf ich denn mit dem, was mir gehört, nicht so umgehen, wie ich es will?“ Über einen solchen Satz kann man nicht diskutieren. Dem Weinbergbesitzer gehört der Weinberg. Ihm gehört das Geld, das er den Tagelöhnern auszahlt. Wer will ihm vorschreiben, was er mit seinem Geld tun darf und was nicht? Und nun der zweite Satz, den Jesus den Weinbergbesitzer sagen lässt: „Warum schaut dein Auge so böse, weil ich so gut bin?“ Der Weinbergbesitzer setzt sein Geld dafür ein, „gut“ zu sein. Warum macht mich das böse? Das sind zwei Dinge. Gottes „Gerechtigkeit“, nach der in dieser Geschichte ja gefragt wird, zeigt sich als eine Geschichte der unbeschreiblichen Güte Gottes. Gott darf also mit dem, was ihm gehört, umgehen wie er will. Und wie geht er damit um? Dass er unbeschreiblich gut ist. Auch wenn man dem Tagelöhner

Faulheit, ja unglaubliche Arroganz vorwerfen kann, weil er mit einer faulen Ausrede erst eine Stunde vor Feierabend auf dem Marktplatz auftaucht … Zu leiden hat die Familie, die vom Verdienst dieses Menschen leben muss. Gott setzt also das, was ihm gehört, dazu ein, dass er ganz einfach gut ist. Und Jesus setzt nun die scharfe Frage hinzu: Warum macht dich denn das so böse, dass Gott so gut ist?

So übersetzt Jesus also den Begriff der „Gerechtigkeit“ in eine Geschichte. Ich sehe plötzlich einen Vorgang vor mir. Diesen Vorgang kann ich betrachten. Ich kann nur zustimmen und sagen: Ich bin damit einverstanden. Ich kann allerdings auch sagen: Nein, das ärgert mich. Ich will nicht, dass Gott so handelt. Ich kann Gottes Handeln also bejahen oder ablehnen. Diskutieren aber kann ich nicht darüber.

Damit sind wir bei einem der wesentlichen Aspekte dessen, was man hebräisches Denken, hebräische Wirklichkeitsauffassung nennen kann. Über einen Begriff kann ich nachdenken. Das hebräische Denken ist interessiert an den Vorgängen, die man betrachten kann. Im Musical Anatevka, das auf die jiddische Dichtung von Tewje dem Milchmann (Scholem Alejchem) zurück geht, taucht der Begriff Liebe auf. Die Tochter, die das neue Denken kennen lernt, bringt ihn nach Hause. Tewje ist verwirrt, da er mit dem Begriff nichts verbindet. Er geht zu seiner Frau und fragt sie: Sag, liebst du mich? Auch seine Frau ist verwirrt. Und nun macht sie genau das, was das hebräische Denken auszeichnet. Sie beginnt nicht zu diskutieren. Sie fragt nach den Vorgängen, die mit Liebe verbunden sind: Ich koche ihm das Essen, ich wasche ihm die Wäsche, ich besorge ihm dem Haushalt, ihm habe ihm die Kinder geboren … Lauter Vorgänge sind es, von denen sie zu erzählen weiss. Und dann fragt sie: „Ist das Liebe?“

Für uns heisst das: Nimm die Begriffe und erzähle die Geschichten, die hinter den Begriffen stehen. Wenn du von Hoffnung sprichst, dann erzähle die Geschichte, wo und wie du geglaubt, gewusst und mit Hoffnung gewartet hast. Und wenn du von Vergebung sprichst, dann erzähle es, wie und wo und wem du vergeben hast bzw. dir selbst vergeben worden ist. Erzähle … Wenn du nichts zu erzählen hast, wenn du die Vorgänge nicht schaust, dann hast du nicht verstanden, was die Begriffe meinen.

Eine Hilfe könnte es sein, wenn man sich eine Liste jener religiösen Begriffe notiert, die in unseren Gesprächen und auch in unserer Verkündigung immer wieder vorkommen. Eine solche Liste kann man für sich allein oder noch besser als (Haus)Kreis anfertigen. Und dann fragen wir: Welche Geschichten aus unserem eigenen Leben kommen uns da in den Sinn? Was können wir von Gerechtigkeit, von Hoffnung und Liebe, von Glauben und Vergebung, von Gnade und Barmherzigkeit usw. … erzählen? Unser eigenes Leben ist das Bilderbuch unseres Glaubens, ist das Geschichtenbuch der grossen Begriffe. Erst dann, wenn wir die eigenen Geschichten erzählen können, wird deutlich, in wie weit wir Gottes Geheimnisse auch verstanden haben.

Bei Jesus kann man Wesentliches lernen. Die Geschichten, die er erzählt hat, waren ausnahmslos Alltagsgeschichten. Er erzählt vom Sämann bei der Arbeit, vom Tagelöhner, der den Acker pflügt, vom Hirten, der das Schaf sucht, von der Hausfrau, die den Sauerteig unter das Mehl mengt usw. Jesus hat nie eine religiöse Geschichte erzählt. Er meint also, unser Alltag sei transparent für die Geheimnisse Gottes, die Geheimnisse des Reiches Gottes. Wer da ins Alltagsleben genau hinsieht, der versteht genug auch vom Reich Gottes. Jesus sagt: Schau doch hin. So ist es doch! Hinter seiner Verkündigung steht eine grosse Einfachheit. Nichts ist kompliziert.

Hebräisches Denken setzt also nicht voraus, dass man Hebräisch als Sprache lernt. Der wesentlichste Einsatz besteht darin, dass wir nach den Vorgängen, also nach den Geschichten fragen, die hinter den Begriffen stehen.

ZEITEN ODER ASPEKTE

In der Schule haben wir gelernt, dass man die Tätigkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterteilen hat. Diese Einteilung unserer Wirklichkeit hat sich derart in uns festgesetzt, dass wir uns eine andere Möglichkeit zunächst kaum vorstellen können.

Nun geht es überhaupt nicht darum zu bestreiten, dass es vergangene, gegenwärtige und kommende Ereignisse gibt. Natürlich: Das ist eine Möglichkeit, die Wirklichkeit einzuteilen. Und so haben wir in der Schule diese drei Zeitformen unserer schriftdeutschen Verben kennen gelernt. Der Blick auf sogenannte Dialekte (eigentlich sind das ebenso Sprachen) müsste uns jedoch skeptisch machen, dass das die einzige Möglichkeit der Einteilung von Vorgängen ist. Schweizer-Deutsche bzw. Alemannische Sprachen kennen diese Einteilung nicht. Sie haben, genau wie das Hebräische, im Gegensatz dazu zwei „Aspekte“. Man fragt nicht, ob etwas vergangen, gegenwärtig oder kommend ist. Man fragt, ob etwas abgeschlossen oder noch nicht abgeschlossen ist. Eigentlich sagen das auch unsere grammatischen Begriffe sehr präzis: Handelt es sich um ein Perfektum oder um ein Imperfektum? Ist eine Handlung bereits abgeschlossen bzw. fest beschlossen (Perfektum), oder ist bei dieser Handlung noch etwas offen (Imperfektum)?

Das mag zunächst ganz theoretisch klingen. Aber das ist es nicht. Es gibt Vorgänge, die noch in der Zukunft liegen (im Zeitsystem also ein Futurum sind), die aber dennoch ganz fest stehen (also ein Perfektum sind). Es gibt genauso Ereignisse, die vergangen sind (im Zeitsystem also eine Vergangenheit), die aber immer noch nicht abgeschlossen (also ein Imperfektum) sind. Auf Schweizerdeutsch kann man sagen: „Ich bin dann gegangen“ (vgl. „Ich bin dann mal weg“). Das sagt jemand, der – im Zeitaspekt – immer noch gegenwärtig ist, ja dessen Weggehen noch in der Zukunft liegt. Er ist aber fest entschlossen, jetzt zu gehen und dann weg zu sein. Und das kann er – im Aspekt der Ernsthaftigkeit einer Handlung – nur mit dem Perfektum ausdrücken.

Das Interesse im Hebräischen liegt darin, wie ernsthaft eine Handlung ist. Steht etwas fest? Ist etwas abgeschlossen? Ist etwas wirklich vorbei? Dann mag der Vollzug der Handlung auch erst in der Zukunft liegen. Wenn Gott mir vergibt, dann ist es nicht so wichtig, ob das in der Vergangenheit war, ob es gegenwärtig ist oder sich erst in der Zukunft vollzieht. Entscheidend ist, ob es ein ‚Perfektum’ ist: etwas Fest-Stehendes, etwas Abgeschlossenes. Dasselbe gilt auch von Handlungen unter uns Menschen. „Ich vergebe dir“, das ist – in unserem grammatischen Denken – ein Präsens. Der hebräisch denkende Mensch würde den Kopf schütteln und nachfragen: Ist das ein Perfektum – oder bist du immer noch dran? Nur auf ein Perfektum kann ich mich verlassen.

Das letzte Wort Jesu am Kreuz lautet nach dem Johannesevangelium „Es ist vollbracht“ (19,30). Das ist grammatisch ein Perfektum. Dabei ist Jesus ja noch gar nicht gestorben und auch noch nicht auferstanden. Im Rahmen des Zeitdenkens kann das also nicht bzw. noch gar nicht stimmen. Und dennoch: Da steht etwas ganz, ganz fest, auch wenn es sich gerade jetzt bzw. erst in der Zukunft vollzieht. Es ist ein Perfektum.

Von der hebräischen Wirklichkeits-Auffassung her eröffnet sich uns damit eine spannende Frage an unser Handeln: Ist das, was wir tun, wirklich abgeschlossen? Oder ‚läuft’ da noch etwas? Diese Unterscheidung ist entscheidender als die Frage, ob sich etwas in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft abgespielt hat oder abspielt. Daran kann man sein Handeln und sein Verhalten prüfen:

Ich habe dir vergeben – Vergangenheit – wirklich abgeschlossen oder noch offen?

Ich liebe dich – Gegenwart – Aber: ‚Läuft’ da wirklich noch etwas?

Ich …

Wie viele Dinge in unserem Leben sind – grammatisch gesehen – Vergangenheit. Und doch sind sie nicht abgeschlossen. So manches wird erst kommen. Und doch steht es bereits fest.

PARALLELISMUS

Man kann also durchaus hebräisch ‚denken’ lernen, ohne einen Sprachkurs zu besuchen. Eine gute Möglichkeit, sich dem Geheimnis des Hebräischen zu nähern, sind Beobachtungen an der hebräischen Lyrik, vor allem also an den Psalmen. Deutsche Lyrik zeichnet sich in der Regel durch einen Schlussreim aus. Griechische und lateinische Lyrik bauen auf dem ausgeprägten Rhythmus der Sprache auf. Beides kennt das Hebräische nicht. Die Grundform der Lyrik besteht darin, dass ein Sachverhalt durch zwei verschiedene Sätze (manchmal sind es auch drei Sätze) zum Ausdruck gebracht wird. Das ist wie wenn mich jemand an der Hand nimmt und mir eine Sache beschreibt. Und dann geht er mit mir ein paar Schritte weiter zu einem anderen Standort und beschreibt, wie dieselbe Sache von eben diesem anderen Standort anders aussieht. Der Hebräer sagt damit: Wenn du eine Sache nur von einer Seite her gesehen hast, dann hast du sie noch nicht verstanden. Du musst sie mindestens von zwei Seiten her geschaut haben. Man hat das sehr schnell gelernt und kann es darum, auch mit einer deutschen Übersetzung in der Hand, sofort selbst üben. Als Beispiel Psalm 23:

Aspekt 1: Der Herr ist mein Hirte

Aspekt 2: Mir wird nichts mangeln.

Das sind, hebräisch verstanden, nicht zwei Aussagen. Es ist ein und dieselbe Aussage, gesehen von zwei verschiedenen Standpunkten. Und so geht es gleich weiter:

Aspekt 1: Er weidet mich auf einer grünen Aue

Aspekt 2: und führet mich zum frischen Wasser.

Aspekt 1: Er erquicket meine Seele

Aspekt 2: Er führet mich auf rechter Strasse um seines Namens willen.

Aspekt 1: Und ob ich schon wanderte im finstern Tal

Aspekt 2: fürchte ich kein Unglück.

Aspekt 1: Denn du bist bei mir.

Aspekt 2: Dein Stecken und Stab trösten mich.

Und so geht es weiter. Manchmal hat dieser Parallelismus auch drei Glieder, manchmal wiederholt der zweite Satz den ersten auch nicht sondern führt ihn inhaltlich weiter. Wichtig ist dass man sich vor Augen hält: Der Parallelismus zählt nicht verschiedene Vorgänge auf. Er beschreibt verschiedene Aspekte eines einzigen Vorganges, eines einzigen Sachverhaltes. Also: „Denn du bist bei mir“ ist die eine Seite. Wie aber sieht denn das aus, dass Er bei mir ist? „Dein Stecken und Stab trösten mich.“ In Stecken und Stab drückt sich aus, dass Er und wie er bei mir ist. Das ist nicht etwas Zweites. Es ist dasselbe, gesehen von einem anderen Gesichtspunkt. Nun begreift man auch: Jede Sache kann man von ganz verschiedenen Standorten ansehen. Immer sieht man dasselbe, auch wenn sich von jedem Standort her ein neuer und oft genug auch überraschender Aspekt zeigt.

Als weiteres Beispiel:

Aspekt 1: Lobe den Herrn meine Seele

Aspekt 2: und alles was in mir ist seinen heiligen Namen …“

Aspekt 1: Lobe den Herrn meine Seele

Aspekt 2: und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat …“

Nun kann man darüber nachdenken: Meine Seele, das ist also „alles was in mir ist …“. Den Herrn loben bedeutet von einem anderen Aspekt aus gesehen: „vergiss nicht …“

Mit dieser einfachen Einsicht in den hebräischen Parallelismus kann man sich, allein oder in einer Gruppe, sogleich an die Arbeit machen und Beobachtungen sammeln. Welche Begriffe werden durch welche Vorgänge gedeutet? Welche verschiedene Vorgänge werden zusammen geschaut, weil sie im Grunde eine Einheit bilden, die man nicht auflösen kann. Auf diese Weise lernt man recht schnell hebräisch zu denken. Dahinter steht eine Mahnung: Schau eine Sache nie nur von einem Standpunkt aus an.

Vielleicht haben Sie Freude, diesen Anregungen nachzugehen und selbst Entdeckungen zu machen. Ich wünsche Ihnen eine gute Entdeckerfreude am kostbaren Wort unserer Bibel.

Christliche Spiritualität hat wesentlich damit zu tun, dass man die Texte der Bibel genau liest, ja immer genauer auf den Wortlaut achtet. Das klingt banal. Aber gerade das ist es nicht. In der Sprache drückt sich das Denken einer Sprachgemeinschaft aus. So kann man danach fragen: Wie denkt man eigentlich, wenn man ‚hebräisch’ denkt?